- Natufien: Revolutionäre Prozesse im Nahen Osten
- Natufien: Revolutionäre Prozesse im Nahen OstenHaben wir die Jägerkulturen im Europa des 10. vorchristlichen Jahrtausends als beschaulich und ihre materielle Kultur als Reaktion auf das Vordringen des Waldes kennen gelernt, so treffen wir mit Blick auf das östliche Mittelmeer und Vorderasien auf eine andere Welt. Auch hier war es das Klima, das den Menschen und seine Kultur entscheidend prägte. Aber im »Fruchtbaren Halbmond«, der sich von Ägypten über Palästina und Syrien bis an den Persischen Golf spannt, wurde es zunehmend trocken. Jedoch kommen gerade hier, im Quellgebiet von Euphrat und Tigris, diverse Wildgräser sowie Schaf und Ziege natürlich vor. Eine zunächst ungünstige klimatische Ausgangssituation führte zu ungeahnt rasanten Entwicklungen, die schließlich im Neolithikum, der Jungsteinzeit, gipfelten. Einige Wissenschaftler sehen in der Umstellung auf die bäuerlich produzierende, sesshafte Lebensweise den größten kulturgeschichtlichen Schritt seit der Beherrschung des Feuers.Ausgangskultur dieser Revolution im Nahen Osten, in der Levante, ist das Natufien, dessen Vertreter aufgrund des abnehmenden Wildbestandes Höhlen und Grotten verließen, um in den Ebenen verschiedene Wildgetreidesorten zu sammeln. Vergleichbare Prozesse einer Neolithisierung haben sich - vermutlich zeitgleich - im nordafrikanischen Raum wie auch in Asien vollzogen. Der Begriff »Natufien« geht auf eine eher unbedeutende Örtlichkeit zurück, die 1928 nordöstlich von Jerusalem ausgegrabene Shukbah-Höhle im Wadi en-Natuf. In dieser Höhle, ebenso an den Fundstellen Mugharet el-Wad in Jordanien, Ain Mallaha (Enan) in Israel sowie Tell Mureybit und Abu Hureira in Syrien, fanden sich charakteristische mikrolithische Gegenstände, Steinartefakte wie Knochengerätschaften. Besonders interessant sind die mit Tierköpfchen verzierten Erntemesser aus Tierknochen, deren Schneidenbereich mit Sichelglanz bedeckt ist. Dieser lagert sich beim Durchtrennen silikathaltiger Stängel von Getreide, aber auch von Schilf auf der Schneide ab und ist somit ein direkter Hinweis auf die Nutzung von Pflanzen.Neben den geschnitzten Erntemessern zeugen auch einige wenige Kleinplastiken aus Stein vom künstlerischen Vermögen ihrer Bearbeiter. Harpunen und Angelhaken wurden aus Knochen gefertigt, daneben fanden sich auch Knochenhacken, die sowohl der Jagd als auch dem Feldbau gedient haben können. Als große Steingeräte kommen 60 cm hohe, wegen ihres Gewichts nicht zu transportierende Mörser hinzu, die aus ausgehöhltem Kalkstein und Basaltblöcken gefertigt wurden. Reibsteine sind nicht nur Beleg einer innovativen Technik, sondern auch eindeutige Hinweise auf die Zubereitung von Getreide. Oft sind die Zähne der Bewohner aufgrund des beigemischten groben Abriebsandes der Mahlsteine bis auf die Wurzeln abgewetzt, eine unliebsame und schmerzhafte Begleiterscheinung dieser neuen Kost.Revolutionär sind neben dem veränderten Nahrungserwerb auch die aufwendig aus Bruchsteinen errichteten Rundhäuser, die Durchmesser von bis zu 12 Meter erreichten. Vermutlich lebten hier mehrere Generationen und Familien unter einem Dach. Aufwendige Pflasterungen, Steinsetzungen, die Anlage von in den Boden eingetieften Speichern sowie Bemalungen unterstreichen die Dauerhaftigkeit dieser Anlagen. Auch der Siedlungshügel von Tell es-Sultan, aus der Bibel als Jericho bekannt, lieferte für das Natufien eine Fundschicht. Der hier aufgedeckte bauliche Rest - datiert auf etwa 9250 v. Chr. - wird als Kultstätte interpretiert. Die intensive Besiedlung, die von Zeichen des Wohlstandes geprägt ist, dürfte einerseits auf die dauerhafte Quelle am Fuße des Hügels und andererseits auf Rohstoffvorkommen, hauptsächlich Salz und Bitumen, zurückzuführen sein. Handel ist aber erst in den folgenden Siedlungen nachzuweisen, die »Natufier« waren noch reine Selbstversorger.Dr. Erwin Cziesla
Universal-Lexikon. 2012.